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Profil eines Hasen

20/8/2009

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Die besten Geschichten schreibt nicht das Leben. Die besten Geschichten schreibe ich. Ich gebe ihnen einen Anfang und ein Ende, lasse Informationen weg, die mir nicht gefallen und dichte andere hinzu. Nun sitze ich an meiner Schreibmaschine (die eigentlich ein altersschwacher Laptop ist) und setze den Anfang in ein Café am Sonntagmittag. Großstadtmythen, Kirschbaumblüten, Einkaufstüten. Ich sitze mit zwei Freundinnen draußen an einem Tisch, du bist der Kellner. Schriebe das Leben diese Geschichte, wären wir uns vorher sicherlich schon begegnet. Ein flüchtiges Hallo in der U-Bahn oder gemeinsame Freunde auf Facebook. Und du wärest Gast in dem Café. Einer, der schüchterne Blicke in meine Richtung wirft, aber doch nichts sagt. Dein Blick wäre nicht so böse und dein Lächeln nicht so selbstsicher. Aber das Leben schreibt diese Geschichte nicht. Es ist jedenfalls Sonntag und hier beginnt die Geschichte. Du bringst mir einen Milchkaffee und eine Einladung für ein Bier am Abend. Und du bittest mich, deinen Namen zu ändern, wenn ich diese Geschichte aufschreibe.

Vom ersten Moment an bin ich gefesselt. Es ist inzwischen nachts, wir haben noch 36 Stunden. Keine Zeit für die anfänglichen Zweifel, die das Leben nun an dieser Stelle eingebaut hätte. Wir laufen mit einem Bier in der Hand durch deine Stadt, die nun ein bisschen auch meine ist. Ich mag deine dunkle Stimme, deine vulgären Witze und dein trauriges Gesicht. Du erzählst mir von Kaninchen und ich muss an das dicke Kaninchen von Albrecht Dürer denken. Wie es in seiner aus Bleistiftstrichen gebauten Gemütlichkeit da liegt und wartet. Oder vielleicht war es ein Hase. Und ich denke an den Greis, der in meinem Heimatdorf unser Nachbar war. Fast täglich hat er Kaninchen erlegt, ihnen das Fell vom Leib gezogen und die grotesken Tierkadaver an ihren Hinterbeinen in seiner Laube aufgehängt. Und von da aus schauten sie mich an, ihre morbiden Blicke verfolgten meinen Gang. Ich war fünf oder sechs oder es waren Hasen. Todesschrein, Hasenbein, Mondesschein.

Die Nacht verlässt frühzeitig die Bühne und lässt sich vom Morgengrauen entschuldigen. Wir sitzen weiterhin auf einer Bank vor einem Friseursalon und finden keine Gründe uns zu verabschieden. Häuserwand, Alsterstrand, unverspannt. Würde das Leben diese Geschichte schreiben, lägen wir schon längst innig umschlungen und sinnig verklungen in deinem Bett, in deiner Stadt. In dieser Geschichte aber trauen wir uns nicht oder wollen vielleicht auch nicht. In dieser Geschichte ignorieren wir die Sternschnuppen am Himmel, sprechen über Theater und Literatur und wissen, dass ein Kuss nun keins von beidem wäre. Irgendwann stehen wir auf und gehen nach Hause, wir frieren beide ein bisschen, jeder für sich. Und Sternenhimmel finden wir blöd.

Das Leben hätte mich nun meine Rückfahrt verschieben und es mich in der Bleistiftzeichnung deiner Wohnung gemütlich machen lassen. Und vielleicht sitze ich auch in dieser Geschichte zwanzig Stunden später auf deinem Bett und wir küssen uns und wir mögen uns und wir reden über Liebe und müssen kurz ein bisschen lachen. Fast beleidigend wirkt dieses Wort. Banal, weil es gedruckt auf T-Shirts und vergewaltigt in hunderten Liedtexten nicht ansatzweise zu beschreiben vermag, was uns verbindet. Du bist meine hundert Prozent, ich bin die Skizze deines Morgens und Uebermorgens. Ich liege neben dir in deinem Bett und wir hätten uns ausgezogen und ich wäre geblieben. Aber das Leben schreibt diese Geschichte nicht. Du hast mich nach Hause gefahren und im Radio lief dieses Lied, das mich schonmal an eine Stadt und einen Mann erinnert hat. Und die Frauenstimme singt genau die Worte, die nun das Leben an dieser Stelle geschrieben hätte und wir lachen ein bisschen. Und trotzdem hast du wieder diesen bösen Blick in deinem traurigen Gesicht. Du ziehst mich zu dir hin und gibst mir einen dieser Küsse, die ganz gewöhnliche Momente, die das Leben eben so schreibt, zu großen Momenten machen, von denen man dreißig Jahre später noch den Nachbarskindern erzählen wird. Und dann steige ich aus und die Geschichte ist zu Ende. Nicht, weil das Leben es so geschrieben hätte, sondern weil ich es so schreibe. Und ich ändere deinen Namen. Und ich lasse Informationen weg, die mir nicht gefallen und dichte andere hinzu. Und ich denke an dich, mein Kaninchen. Oder vielleicht war es ein Hase.
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YULIAN I∙DE

Journalist, Kolumnist & Korrespondent
Niederlandist, Linguist & Literaturwissenschaftler
Presse-, Marketing- & Veranstaltungsreferent
Netzwerke in den Kulturbranchen in Deutschland und den Niederlanden & Flandern
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