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Jüdische Jugendliche in Schortens

11/5/2018

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Illustrationen © Hannelore Dreher (instagram: @hanneloredreher)

Paula ist gerade erst 19, als sie Max in der Nähe von Bremen heiratet. Man kann sich gut vorstellen, wie aufgeregt sie gewesen sein muss. Max, immerhin schon 26 Jahre alt, ist ein gutaussehender junger Mann. Er hat eine Schlachterlehre in Bremen abgeschlossen. Er ist das, was man allgemein eine gute Partie nennt. Er hat freundliche Augen und lächelt viel. Paula ist überglücklich an ihrem Hochzeitstag im Jahr 1905. Noch im selben Jahr wird das erste Kind geboren, es ist ein Mädchen. ​Zwei weitere Kinder, ein Mädchen und ein Junge, folgen. Der jungen Familie fehlt es an nichts, bis im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht.
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Als ältestes von fünf Kindern hat man es nicht leicht. Aber ihre ersten zwei Lebensjahre ist Lina das ganze Glück ihrer Eltern. Vor allem die junge Mutter liebt ihre Tochter über alles, denn Lina ist ein fröhliches Kind, das sich schnell mit den anderen Kindern in Asendorf anfreundet. Am liebsten hat sie aber ihre kleine Schwester, die zwei Jahre später geboren wird. Bevor Lina eingeschult wird, genießt sie es, den ganzen Tag mit ihrer Schwester mit Puppen zu spielen. Ihre Puppen machen Weltreisen im Flugzeug oder auf dem Schiff, arbeiten als Ärztinnen im Krankenhaus oder regieren als Königinnen riesige Königreiche. Manchmal sind sie aber auch Verkäuferinnen in einem Laden, denn das möchte Lina später auch mal werden.
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Weil die kleine Käthe erst mit zweieinhalb Jahren zu sprechen beginnt, machen sich die Eltern Sorgen. Stimmt etwas nicht mit ihr? Ist das Mädchen vielleicht krank? Aber Käthe ist nicht krank, sie möchte einfach nichts sagen. Das Reden überlässt sie ihrer großen Schwester, die sich wunderbare Geschichten ausdenken kann. Käthe hört lieber zu. Nur ein Jahr nachdem sie sich mit ihren ersten Worten der Welt vorgestellt hat, bringt sie sich selbst das Lesen bei. Aber ganz ohne Hilfe geht es nicht: jeden Tag erzählt Lina zuhause von den Buchstaben, die sie in der Schule gelernt hat. Und Käthe hört zu.
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Kurz nach Adolfs Geburt zieht die junge Familie nach Bremervörde. Der Junge ist mit seiner schwangeren Mutter und den Schwestern allein, als der Vater als Soldat in den Krieg zieht. Auch bei seiner Einschulung liegt der Vater hunderte Kilometer entfernt in einem Schützengraben und hofft, bald nach Hause zu seiner Familie zurückkehren zu können. Vor Adolfs innerem Auge verschwimmt das Gesicht des Vaters immer mehr. Das erzählt er natürlich niemandem, erst recht nicht der Mutter, denn es würde sie verletzen. Nur mit Marianne, der einzigen schwarzbunten Milchkuh, die die Viehhändlerfamilie zur eigenen Nutzung hält, bespricht er sein Geheimnis.  
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Als der Vater aus dem Krieg zurückkehrt, fängt der jüngste Sohn Arthur wie wild an zu heulen. Wer ist dieser ausgezehrte Mann mit dem schlaffen Arm? Auch wenn der Anfang dieser Vater-Sohn-Beziehung besser hätte laufen können, schließt Arthur seinen Vater schnell ins Herz. Max schenkt seinem jüngsten Sohn das Eiserne Kreuz, das er verliehen bekommen hat. Für Arthur ist dieses Geschenk von seinem Vater der größte Schatz und stolz zeigt er es seinen Freunden auf dem Schulhof. Der Vater ist es, dem er von seiner ersten Schwärmerei erzählt, als die Familie schon längst nach Jever gezogen ist. Der Vater bringt ihm auch bei, wie man sich rasiert, als auf Arthurs Oberlippe die ersten Barthaare sprießen.
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Helene ist neun Jahre alt, als die Familie nach Heidmühle zieht. Der Vater hat an der Jeverschen Straße 16 eine Schlachterei gekauft, im Obergeschoss wohnt die Familie. Das Nesthäkchen Helene fühlt sich sofort wohl in diesem gemütlichen Dorf, das von nun an ihr Zuhause ist. Und die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Jedem ihrer Schortenser Nachbarn ringt das aufgeweckte Mädchen mindestens ein Lächeln ab. Mancher schenkt ihr einen Apfel aus dem Garten, andere winken ihr aus schon aus der Ferne freudig zu. Eine alte Frau gibt ihr sogar einmal ein blaues Haarband und flechtet es ihr sofort ins Haar. Helene muss man einfach mögen, und so geht es auch den älteren Geschwistern, die nun in allen Phasen der Pubertät stecken. So sehr die Jungen und Mädchen sich auch gegenseitig ärgern und aufziehen – das kleine Lenchen wird von allen abgöttisch geliebt. 
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Im Haus in der Jeverschen Straße 16 kann die Familie zum ersten Mal richtig ankommen. Es ist ein schönes Haus mit großen Räumen. Unten ist der Laden. Die glückliche Zeit in Schortens dauert aber nur acht Jahre. Sicher, viele hier im Dorf wählen schon lange die Nazis, aber die Schlachterei und der Viehhandel laufen so gut, dass Max und Paula sich auch keine großen Sorgen machen, als im Januar 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wird. Was für einen Einfluss soll die Politik im fernen Berlin schon auf ihr Leben hier im beschaulichen Schortens haben? Sie sind Deutsche, Max hat für das Deutsche Reich im Krieg fast sein Leben gelassen. Überhaupt: nichts von dem, was die Nazis über die Juden sagen, trifft auf Max und Paula zu. Sie sind liberal, all ihre Kinder haben nicht-jüdische Freunde, die Familie ist beliebt im Dorf. Bis jemand „Kauft nicht bei Juden“ an die Fassade ihrer Schlachterei schmiert.  
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Als Max seinem Angestellten Fiddi die Schlachterei verkauft, hofft er, dass das eine Übergangslösung ist, bis sich alles wieder beruhigt hat. Das Geschäft könnte er anders doch nicht weiter führen und Fiddi ist schließlich eine ehrliche Haut. Schon bald werden Max und Paula die Schlachterei zurückkaufen können, so hoffen sie. Es kommt anders.
1934 ziehen Max und Paula nach Cloppenburg, wo Max Arbeit in einer Großschlachterei findet. Das Zerteilen von Schweinen ist schwere Arbeit und aufgrund seiner Lähmung ist er langsamer als seine Kollegen. Abends tut ihm oft der Rücken weh. Und er vermisst seine Kinder.  
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Linas Eltern bleiben nicht lange in Cloppenburg, schon drei Jahre später ziehen sie nach Oldenburg, wo Lina sie manchmal besuchen kann. Ihr Vater hat dort eine Anstellung in einem Kaufhaus gefunden. Besonders Paula fehlt ihr sehr. Für Lina ist sie Mutter und beste Freundin zugleich. Genau wie Paula ist Lina erst 19, als sie in Jever einen Schulfreund heiratet. Noch ist sie glücklich, aber die Zeiten ändern sich schnell. Aus dem aufgeweckten Kind von früher ist eine nachdenkliche junge Frau geworden. Früher träumte sie von Weltreisen, heute darf sie sich als sogenannte Volljüdin nicht mal mehr auf eine Parkbank setzen oder ins Kino gehen. Dabei liebt sie Filme. Vor allem Der große Bluff mit Marlene Dietrich würde sie gern sehen. Aber amerikanische Filme zeigen die meisten Kinos sowieso nicht mehr.
​Als Linas Mann nach Stuttgart versetzt wird und das Ehepaar mit dem Zug von Jever aus nach Süden fährt, spielt sich am Oldenburger Bahnhof eine Szene ab, die man sonst nur in Filmen sieht. Weil alle Juden kurz zuvor ihre Fahrräder abgeben mussten, kommen Max und Paula fast zu spät, um ihrer Tochter Lebewohl zu sagen. Aus dem abfahrenden Zug kann Lina ihnen gerade noch hastige Luftküsse zuwerfen, als die Eltern die Treppe zum Bahnsteig hinauf eilen. Die restliche Zugfahrt heult Lina ununterbrochen. Es ist das letzte Mal, dass sie ihre Eltern gesehen hat.
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Auch als erwachsene Frau mag Käthe Bücher lieber als Menschen. Nur für zwei Menschen legt sie die Lektüre gern zur Seite: Ewald, ihr Mann, mit dem sie sich auch ohne viele Worte gut versteht. Und Iris, ihre Tochter, der sie Abend für Abend aus ihren Lieblingsromanen vorliest. Iris mag Emil und die Detektive besonders gern. Aber die Stimme der Mutter klingt immer trauriger. Als Max und Paula nach Herne ziehen, schreibt Käthe ihnen regelmäßig Briefe. Eines Tages antwortet ihre Tante Selma: Max und Paula sind nicht mehr da. Sie wurden abgeholt und nach Osten gebracht.
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Als Kind hat Adolf das Gesicht des Vaters fast vergessen, nun geht es ihm nicht mehr aus dem Kopf. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute sieht er Max und Paula vor sich. Dabei erinnert nichts mehr daran, dass er der Sohn seiner Eltern ist: er hat einen neuen Namen angenommen und lebt mit seinem Geheimnis erst in Frankfurt, später in Thüringen. Adolf mag die hügelige Landschaft, in die er Meter für Meter Straßenpflaster legt. Dass über die neuen Straßen Panzer bald rollen, ekelt ihn. Aber hin und wieder sieht er in der Landschaft eine schwarzbunte Milchkuh. Der flüstert er dann sein Geheimnis zu: „Ich bin ein Jude aus Schortens. Und ich habe Angst, dass meine ganze Familie schon tot ist.“
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Arthur ist nicht tot. Auf einem Motorrad ist er nach Amsterdam geflohen und lernt dort Jenny kennen, als diese gerade an einer Gracht sitzt und Lilli Marleen summt. Er liebt Jennys Stimme sofort und, weil beide kein holländisch sprechen, sind sie froh, sich mit jemandem auf deutsch unterhalten zu können. Wenige Wochen später heiraten die beiden Leidensgenossen und bekommen eine Tochter, Ilse. Kurz sieht es so aus, als können die beiden zusammen glücklich werden, bis Hitler 1940 in Holland einfällt. Am selben Tag, als Arthur aus dem Fenster beobachtet, wie Jenny von SS-Soldaten verhaftet wird, versteckt er die Tochter bei Bekannten in der Südstadt und taucht unter. Als er einmal auf dem Weg zu Ilses Versteck ist, um ihr Wurst und Brot zu bringen, wird auch er verhaftet.
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Zur gleichen Zeit lebt auch Helene versteckt, allerdings 650 Kilometer entfernt im thüringischen Vogtland. Oft denkt sie zurück an ihren Hochzeitstag im Oktober 1934 – das letzte Mal, dass die ganze Familie zusammen war – und fragt sich, wo ihre Eltern und Geschwister geblieben sind. Wo ihr Ernst ist, weiß sie hingegen immer ganz genau. Fast täglich schickt er ihr und den zwei Kindern Briefe, manchmal mit Geld oder Lebensmittelkarten, andere Male mit lieben Worten für seine Familie. Von der ständig lauernden Gefahr, entdeckt zu werden, lässt sich Helene ihre gute Laune nicht verderben. Im Gegenteil: unter lautem Lachen springt sie mit der Tochter Seil, purzelt Rolle-rückwärts einen Hügel hinunter oder rennt mit ihrem Sohn um die Wette. Helene gewinnt immer – und so ist es nur logisch, dass sie, als der Krieg endlich vorbei ist, auch das Leben gewinnt.
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Max stirbt in Theresienstadt im März 1943. Paula überlebt ihren Mann, den sie so sehr liebte, nur um vierzehn Monate. Sie wird im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und wohl noch am Tag ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet.
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Lina, die als Kind davon träumte, um die Welt zu fliegen, sieht bald täglich Flugzeuge am Himmel über Stuttgart.
​Bei einem alliierten Angriff fällt eine Bombe auf ihr Haus.  
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Auch Käthe überlebt den Krieg nicht. Die Trauer um ihren gefallenen Mann und der Kummer um die Eltern belasten sie schwer. Das ist keine Welt mehr, in der Käthe noch leben möchte.
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Auch Adolf ist enttäuscht von der Welt und der Zeit, in die er hineingeboren wurde. Kurz hofft er, im Sozialismus ganz von vorn anfangen zu können. Aber das wird nur eine weitere Enttäuschung sein.  
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Holländische Widerstandskämpfer befreien Arthur aus der Haft, für seine Frau Jenny ist es zu spät: Sie wird 1944 in Auschwitz ermordet. Arthur geht nach dem Krieg zurück nach Cloppenburg, wo er ein zweites Mal heiratet und ein Sohn geboren wird.
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Helene kehrt mit ihrem Ernst und ihren zwei Kindern nach Schortens zurück. Erst hier erfährt sie, dass ihre Eltern und ihre beiden Schwestern den Krieg nicht überlebt haben.
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Zwar wurde das Haus der Familie im Laufe der Jahre stark umgebaut, aber es steht noch heute. Wie die Jugendlichen, die in dem Haus gelebt haben, wirklich waren – darüber lässt sich heute nur noch spekulieren. Wir können sie uns aber mit Sicherheit vorstellen als junge Menschen mit Träumen und Zielen, als Nachbarn oder Freunde, auf jeden Fall aber als Schortenser in Schortens.
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Journalist, Kolumnist & Korrespondent
Niederlandist, Linguist & Literaturwissenschaftler
Presse-, Marketing- & Veranstaltungsreferent
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