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Am Rande des Stadtplans

13/9/2012

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Bildrechte: Devid Mrusek
Die Gropiusstadt war immer schon irgendwie Außenseiter. Vor gut fünfzig Jahren wurde die Satellitensiedlung im damaligen West-Berlin aus dem Boden gestampft. Rein zweckmäßig, um der nahenden Wohnungsnot entgegenzuwirken. Geringverdiener, die bisher die Hinterhäuser und Seitenflügel der Kreuzberger Altbauten bevölkerten, sollten hierhin umgesiedelt werden. Und so schön grün war es hier, an der Grenze zur Brandenburger Steppe. Dass der Plan nur mäßig gut aufging, weiß man nicht erst seit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.

Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus. Meine Eltern schimpften auf die Proletenkinder, die das Treppenhaus verunreinigten. Aber die Proletenkinder konnten meist nichts dafür. Das merkte ich schon, als ich das erste Mal draußen spielte und plötzlich mußte. Bis endlich der Fahrstuhl kam und ich im 11. Stockwerk war, hatte ich in die Hose gemacht. Mein Vater verprügelte mich. Als ich es ein paarmal nicht geschafft hatte, von unten rechtzeitig in unser Badezimmer zu kommen, und Prügel bekam, hockte ich mich auch irgendwo hin, wo mich niemand sah. Da man aus den Hochhäusern fast in jede Ecke sehen kann, war das Treppenhaus der sicherste Platz.
aus Felscherinow, C.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Hamburg: Gruner+Jahr, 1978.

Eine ähnliche Kulisse baut der junge Autor Frédéric Valin in seiner Anekdotensammlung Randgruppenmitglied auf, die er anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum der Gropiusstadt in der eigenens dafür eingerichteten Sky Lounge im 30. Stock eines Wohngebäudes vorträgt. Seine Berichte handeln von den Bewohnern einer Behindertenwohngruppe, die ähnlich zwanglos mit ihren eigenen Fäkalien hantieren, von jugendlichen Landeiern auf der Suche nach einer identitätsstiftenden Subkultur oder von einer Altenheimbewohnerin, die sich nichts sehnlicher wünscht als zu sterben. Periphere Existenzen, die den Besuchern der Lesung ein bitteres Schmunzeln abringen - sitzen doch auch hier größtenteils Buckower Rentner, die vermutlich wegen der großartigen Aussicht hergekommen sind. Der Wolkenkratzer in der Fritz-Erler-Str. 120 ist das höchste Wohnhaus Berlins und eines der höchsten Deutschlands und führt trotzdem seit jeher ein Randgruppendasein wie die Figuren aus Valins Roman. Es beherbergt keine Loftwohnungen wie das Colonia-Hochhaus am Kölner Rheinufer und ist nicht innenstadtnah wie die Mundsburg-Tower in Hamburg. Immerhin: die Organisatoren beweisen Selbstironie, indem sie Valin sein Randgruppenmitglied an diesem Ort vortragen lassen. Ein sympathischer Außenseiter, das ist die Identität, die die Gropiusstadt anstrebt. Zwar irgendwie anders, aber eben gut anders. Kauzig und nonkonform, das wollen doch alle. Die Gropiusstadt hat ihren Charme, sicher. Von der Terrasse kann man bis zum Fernsehturm schauen, die Natur ist tatsächlich um die Ecke und das mit dem sozialen Brennpunkt ist inzwischen auch nicht mehr so schlimm wie in den Achtzigern. Allenfalls noch ein soziales Knistern, hier lodert auch nicht mehr oder weniger als in den hippen Kiezen Neuköllns oder Kreuzbergs. Gemütliche Lagerfeuerstimmung will allerdings auch nicht aufkommen. Valins Lesung dürfte das vorläufige kulturelle Highlight in der Südberliner Prärie bleiben; die wenigen Unter-Vierzigjährigen, die sich auf die lange Reise in der U7 begeben haben, flüchten mit ihrem signierten Exemplar von Valins Roman, sobald der letzte Applaus verstummt ist. Auch geringere Mieten und moderate Heizkosten werden sie nicht aus ihren Altbauwohnungen in der Innenstadt locken können. Valins unterhaltsam trockene Art, von den tristen Schicksalen des Alltags zu berichten, verfehlt ihren Effekt nicht: hier können sich die Hipster mal so richtig gruseln. Jede Gruppe junger Leute, die den Raum frühzeitig verlässt, wird von einem Rentner am Eingang mit einem Knurren verabschiedet. Vielleicht muss er auch bloß mal husten.

Ein dickes Mädchen, das alleine in einer Ecke sitzt, hat einen Stadtplan aufgefaltet und gleicht ihn mit der Aussicht aus dem Fenster ab. Über die Freisprecheinrichtung ihres Handys erzählt sie einer Freundin im Flüsterton, wie sehr sich der Ausflug in die Gropiusstadt gelohnt habe und dass es wirklich „total spitze“ sei. Sie haben hier echt „richtig viel Spaß“, sie und ihr Stadtplan.
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YULIAN I∙DE

Journalist, Kolumnist & Korrespondent
Niederlandist, Linguist & Literaturwissenschaftler
Presse-, Marketing- & Veranstaltungsreferent
Netzwerke in den Kulturbranchen in Deutschland und den Niederlanden & Flandern
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