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Jüdische Jugendliche in Schortens

11/5/2018

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Illustrationen © Hannelore Dreher (instagram: @hanneloredreher)

Paula ist gerade erst 19, als sie Max in der Nähe von Bremen heiratet. Man kann sich gut vorstellen, wie aufgeregt sie gewesen sein muss. Max, immerhin schon 26 Jahre alt, ist ein gutaussehender junger Mann. Er hat eine Schlachterlehre in Bremen abgeschlossen. Er ist das, was man allgemein eine gute Partie nennt. Er hat freundliche Augen und lächelt viel. Paula ist überglücklich an ihrem Hochzeitstag im Jahr 1905. Noch im selben Jahr wird das erste Kind geboren, es ist ein Mädchen. ​Zwei weitere Kinder, ein Mädchen und ein Junge, folgen. Der jungen Familie fehlt es an nichts, bis im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht.
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Als ältestes von fünf Kindern hat man es nicht leicht. Aber ihre ersten zwei Lebensjahre ist Lina das ganze Glück ihrer Eltern. Vor allem die junge Mutter liebt ihre Tochter über alles, denn Lina ist ein fröhliches Kind, das sich schnell mit den anderen Kindern in Asendorf anfreundet. Am liebsten hat sie aber ihre kleine Schwester, die zwei Jahre später geboren wird. Bevor Lina eingeschult wird, genießt sie es, den ganzen Tag mit ihrer Schwester mit Puppen zu spielen. Ihre Puppen machen Weltreisen im Flugzeug oder auf dem Schiff, arbeiten als Ärztinnen im Krankenhaus oder regieren als Königinnen riesige Königreiche. Manchmal sind sie aber auch Verkäuferinnen in einem Laden, denn das möchte Lina später auch mal werden.
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Weil die kleine Käthe erst mit zweieinhalb Jahren zu sprechen beginnt, machen sich die Eltern Sorgen. Stimmt etwas nicht mit ihr? Ist das Mädchen vielleicht krank? Aber Käthe ist nicht krank, sie möchte einfach nichts sagen. Das Reden überlässt sie ihrer großen Schwester, die sich wunderbare Geschichten ausdenken kann. Käthe hört lieber zu. Nur ein Jahr nachdem sie sich mit ihren ersten Worten der Welt vorgestellt hat, bringt sie sich selbst das Lesen bei. Aber ganz ohne Hilfe geht es nicht: jeden Tag erzählt Lina zuhause von den Buchstaben, die sie in der Schule gelernt hat. Und Käthe hört zu.
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Kurz nach Adolfs Geburt zieht die junge Familie nach Bremervörde. Der Junge ist mit seiner schwangeren Mutter und den Schwestern allein, als der Vater als Soldat in den Krieg zieht. Auch bei seiner Einschulung liegt der Vater hunderte Kilometer entfernt in einem Schützengraben und hofft, bald nach Hause zu seiner Familie zurückkehren zu können. Vor Adolfs innerem Auge verschwimmt das Gesicht des Vaters immer mehr. Das erzählt er natürlich niemandem, erst recht nicht der Mutter, denn es würde sie verletzen. Nur mit Marianne, der einzigen schwarzbunten Milchkuh, die die Viehhändlerfamilie zur eigenen Nutzung hält, bespricht er sein Geheimnis.  
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Als der Vater aus dem Krieg zurückkehrt, fängt der jüngste Sohn Arthur wie wild an zu heulen. Wer ist dieser ausgezehrte Mann mit dem schlaffen Arm? Auch wenn der Anfang dieser Vater-Sohn-Beziehung besser hätte laufen können, schließt Arthur seinen Vater schnell ins Herz. Max schenkt seinem jüngsten Sohn das Eiserne Kreuz, das er verliehen bekommen hat. Für Arthur ist dieses Geschenk von seinem Vater der größte Schatz und stolz zeigt er es seinen Freunden auf dem Schulhof. Der Vater ist es, dem er von seiner ersten Schwärmerei erzählt, als die Familie schon längst nach Jever gezogen ist. Der Vater bringt ihm auch bei, wie man sich rasiert, als auf Arthurs Oberlippe die ersten Barthaare sprießen.
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Helene ist neun Jahre alt, als die Familie nach Heidmühle zieht. Der Vater hat an der Jeverschen Straße 16 eine Schlachterei gekauft, im Obergeschoss wohnt die Familie. Das Nesthäkchen Helene fühlt sich sofort wohl in diesem gemütlichen Dorf, das von nun an ihr Zuhause ist. Und die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Jedem ihrer Schortenser Nachbarn ringt das aufgeweckte Mädchen mindestens ein Lächeln ab. Mancher schenkt ihr einen Apfel aus dem Garten, andere winken ihr aus schon aus der Ferne freudig zu. Eine alte Frau gibt ihr sogar einmal ein blaues Haarband und flechtet es ihr sofort ins Haar. Helene muss man einfach mögen, und so geht es auch den älteren Geschwistern, die nun in allen Phasen der Pubertät stecken. So sehr die Jungen und Mädchen sich auch gegenseitig ärgern und aufziehen – das kleine Lenchen wird von allen abgöttisch geliebt. 
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Im Haus in der Jeverschen Straße 16 kann die Familie zum ersten Mal richtig ankommen. Es ist ein schönes Haus mit großen Räumen. Unten ist der Laden. Die glückliche Zeit in Schortens dauert aber nur acht Jahre. Sicher, viele hier im Dorf wählen schon lange die Nazis, aber die Schlachterei und der Viehhandel laufen so gut, dass Max und Paula sich auch keine großen Sorgen machen, als im Januar 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wird. Was für einen Einfluss soll die Politik im fernen Berlin schon auf ihr Leben hier im beschaulichen Schortens haben? Sie sind Deutsche, Max hat für das Deutsche Reich im Krieg fast sein Leben gelassen. Überhaupt: nichts von dem, was die Nazis über die Juden sagen, trifft auf Max und Paula zu. Sie sind liberal, all ihre Kinder haben nicht-jüdische Freunde, die Familie ist beliebt im Dorf. Bis jemand „Kauft nicht bei Juden“ an die Fassade ihrer Schlachterei schmiert.  
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Als Max seinem Angestellten Fiddi die Schlachterei verkauft, hofft er, dass das eine Übergangslösung ist, bis sich alles wieder beruhigt hat. Das Geschäft könnte er anders doch nicht weiter führen und Fiddi ist schließlich eine ehrliche Haut. Schon bald werden Max und Paula die Schlachterei zurückkaufen können, so hoffen sie. Es kommt anders.
1934 ziehen Max und Paula nach Cloppenburg, wo Max Arbeit in einer Großschlachterei findet. Das Zerteilen von Schweinen ist schwere Arbeit und aufgrund seiner Lähmung ist er langsamer als seine Kollegen. Abends tut ihm oft der Rücken weh. Und er vermisst seine Kinder.  
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Linas Eltern bleiben nicht lange in Cloppenburg, schon drei Jahre später ziehen sie nach Oldenburg, wo Lina sie manchmal besuchen kann. Ihr Vater hat dort eine Anstellung in einem Kaufhaus gefunden. Besonders Paula fehlt ihr sehr. Für Lina ist sie Mutter und beste Freundin zugleich. Genau wie Paula ist Lina erst 19, als sie in Jever einen Schulfreund heiratet. Noch ist sie glücklich, aber die Zeiten ändern sich schnell. Aus dem aufgeweckten Kind von früher ist eine nachdenkliche junge Frau geworden. Früher träumte sie von Weltreisen, heute darf sie sich als sogenannte Volljüdin nicht mal mehr auf eine Parkbank setzen oder ins Kino gehen. Dabei liebt sie Filme. Vor allem Der große Bluff mit Marlene Dietrich würde sie gern sehen. Aber amerikanische Filme zeigen die meisten Kinos sowieso nicht mehr.
​Als Linas Mann nach Stuttgart versetzt wird und das Ehepaar mit dem Zug von Jever aus nach Süden fährt, spielt sich am Oldenburger Bahnhof eine Szene ab, die man sonst nur in Filmen sieht. Weil alle Juden kurz zuvor ihre Fahrräder abgeben mussten, kommen Max und Paula fast zu spät, um ihrer Tochter Lebewohl zu sagen. Aus dem abfahrenden Zug kann Lina ihnen gerade noch hastige Luftküsse zuwerfen, als die Eltern die Treppe zum Bahnsteig hinauf eilen. Die restliche Zugfahrt heult Lina ununterbrochen. Es ist das letzte Mal, dass sie ihre Eltern gesehen hat.
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Auch als erwachsene Frau mag Käthe Bücher lieber als Menschen. Nur für zwei Menschen legt sie die Lektüre gern zur Seite: Ewald, ihr Mann, mit dem sie sich auch ohne viele Worte gut versteht. Und Iris, ihre Tochter, der sie Abend für Abend aus ihren Lieblingsromanen vorliest. Iris mag Emil und die Detektive besonders gern. Aber die Stimme der Mutter klingt immer trauriger. Als Max und Paula nach Herne ziehen, schreibt Käthe ihnen regelmäßig Briefe. Eines Tages antwortet ihre Tante Selma: Max und Paula sind nicht mehr da. Sie wurden abgeholt und nach Osten gebracht.
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Als Kind hat Adolf das Gesicht des Vaters fast vergessen, nun geht es ihm nicht mehr aus dem Kopf. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute sieht er Max und Paula vor sich. Dabei erinnert nichts mehr daran, dass er der Sohn seiner Eltern ist: er hat einen neuen Namen angenommen und lebt mit seinem Geheimnis erst in Frankfurt, später in Thüringen. Adolf mag die hügelige Landschaft, in die er Meter für Meter Straßenpflaster legt. Dass über die neuen Straßen Panzer bald rollen, ekelt ihn. Aber hin und wieder sieht er in der Landschaft eine schwarzbunte Milchkuh. Der flüstert er dann sein Geheimnis zu: „Ich bin ein Jude aus Schortens. Und ich habe Angst, dass meine ganze Familie schon tot ist.“
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Arthur ist nicht tot. Auf einem Motorrad ist er nach Amsterdam geflohen und lernt dort Jenny kennen, als diese gerade an einer Gracht sitzt und Lilli Marleen summt. Er liebt Jennys Stimme sofort und, weil beide kein holländisch sprechen, sind sie froh, sich mit jemandem auf deutsch unterhalten zu können. Wenige Wochen später heiraten die beiden Leidensgenossen und bekommen eine Tochter, Ilse. Kurz sieht es so aus, als können die beiden zusammen glücklich werden, bis Hitler 1940 in Holland einfällt. Am selben Tag, als Arthur aus dem Fenster beobachtet, wie Jenny von SS-Soldaten verhaftet wird, versteckt er die Tochter bei Bekannten in der Südstadt und taucht unter. Als er einmal auf dem Weg zu Ilses Versteck ist, um ihr Wurst und Brot zu bringen, wird auch er verhaftet.
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Zur gleichen Zeit lebt auch Helene versteckt, allerdings 650 Kilometer entfernt im thüringischen Vogtland. Oft denkt sie zurück an ihren Hochzeitstag im Oktober 1934 – das letzte Mal, dass die ganze Familie zusammen war – und fragt sich, wo ihre Eltern und Geschwister geblieben sind. Wo ihr Ernst ist, weiß sie hingegen immer ganz genau. Fast täglich schickt er ihr und den zwei Kindern Briefe, manchmal mit Geld oder Lebensmittelkarten, andere Male mit lieben Worten für seine Familie. Von der ständig lauernden Gefahr, entdeckt zu werden, lässt sich Helene ihre gute Laune nicht verderben. Im Gegenteil: unter lautem Lachen springt sie mit der Tochter Seil, purzelt Rolle-rückwärts einen Hügel hinunter oder rennt mit ihrem Sohn um die Wette. Helene gewinnt immer – und so ist es nur logisch, dass sie, als der Krieg endlich vorbei ist, auch das Leben gewinnt.
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Max stirbt in Theresienstadt im März 1943. Paula überlebt ihren Mann, den sie so sehr liebte, nur um vierzehn Monate. Sie wird im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und wohl noch am Tag ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet.
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Lina, die als Kind davon träumte, um die Welt zu fliegen, sieht bald täglich Flugzeuge am Himmel über Stuttgart.
​Bei einem alliierten Angriff fällt eine Bombe auf ihr Haus.  
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Auch Käthe überlebt den Krieg nicht. Die Trauer um ihren gefallenen Mann und der Kummer um die Eltern belasten sie schwer. Das ist keine Welt mehr, in der Käthe noch leben möchte.
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Auch Adolf ist enttäuscht von der Welt und der Zeit, in die er hineingeboren wurde. Kurz hofft er, im Sozialismus ganz von vorn anfangen zu können. Aber das wird nur eine weitere Enttäuschung sein.  
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Holländische Widerstandskämpfer befreien Arthur aus der Haft, für seine Frau Jenny ist es zu spät: Sie wird 1944 in Auschwitz ermordet. Arthur geht nach dem Krieg zurück nach Cloppenburg, wo er ein zweites Mal heiratet und ein Sohn geboren wird.
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Helene kehrt mit ihrem Ernst und ihren zwei Kindern nach Schortens zurück. Erst hier erfährt sie, dass ihre Eltern und ihre beiden Schwestern den Krieg nicht überlebt haben.
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Zwar wurde das Haus der Familie im Laufe der Jahre stark umgebaut, aber es steht noch heute. Wie die Jugendlichen, die in dem Haus gelebt haben, wirklich waren – darüber lässt sich heute nur noch spekulieren. Wir können sie uns aber mit Sicherheit vorstellen als junge Menschen mit Träumen und Zielen, als Nachbarn oder Freunde, auf jeden Fall aber als Schortenser in Schortens.
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Nelkenstraße, Sommer

8/8/2012

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Geschichten im Juni und Zitronen. Ein matter Blick auf bloßer Haut,
bleischwere Gedanken, die hinter Klinkern wohnen.
Nackte Beine im Vorgarten des August, der stumme Laut
einer leichten Bö unter Blättern, auf denen Worte sich ranken.

Staub schwebt träge durch die Gasse.
Seifenduft auf der Terrasse. Kopfsteinpflasterbucht.
Winzige Schatten auf der Flucht.

Spiel es, Sam. Orchester vom Band in Casablanca.
Bleibt hier, Antonia un dien trurige Klüsen.
Uns bleibt immer noch Oldenburg in Gedanken
und der tränenfarbene Himmel auf Bögen Papier.
wir werfen den Anker auf steinerne Fliesen.

Dort fließt die Hunte, siedendes Meer.
Verwelkte Tinte, die Kleidung vom Leib
schreib' ich dir und lache sehr.


(vgl. Derek Walcott - Bleecker Street, Summer. 1930)

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Zitaten van Blömen un anner Schönheiden.

5/7/2012

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De vergaan Tieden spiekert mit.

22/6/2012

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Maandagen sünd blau, Fredagen sünd geel.

8/6/2012

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Es ist vorgestern in der Uebermorgenstadt.

16/5/2012

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Schortens – Oldenburg – Leer – Rhede (Ems) – Winschoten – Groningen

5/8/2010

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Die Segel für die Flucht aus Schortens waren gesetzt und die Winde schienen günstig. Bereits nach fünf Minuten Warten wurden wir nach Oldenburg gebracht. Unser Fahrer machte irgendwas mit Computern, wir beide heuchelten Interesse. Das Gespräch nahm eine ungeahnte Wendung und endete schließlich bei der Russendisko, die er unbedingt mal besuchen wolle. Ein kurzer Moment, in dem mir auffiel, dass uns tatsächlich noch keine Frau mitgenommen hat – trotz vermeintlichem Pärchen-Bonus. Mit dem Bus in die Oldenburger Innenstadt fuhren wir diesmal schwarz, um unsere Weg-Kosten-Rechnung nicht unnötig zu ruinieren. Während wir uns in der Innenstadt mit Freunden trafen, probierten Anne-Marie und ich, eine Schlafmöglichkeit für die Nacht zu organisieren. Außer einem Platz auf nacktem Boden wurde uns jedoch nichts angeboten und wir beschlossen, dass wir auch auf unserem weiteren Weg etwas Aequivalentes finden könnten. Hätten wir bloß da schon gewusst, wie Recht wir damit haben sollten.

Während wir also zwei geschlagene Stunden an der Autobahnauffahrt auf eine adäquate Mitfahrgelegenheit warteten, fielen uns plötzlich eine Menge Dinge ein, die unbedingt noch erledigt werden mussten. Anne-Marie musste beispielsweise dringend Zigarettendrehen lernen (Filterzigaretten wirken zu bourgeois, um zu trampen. Kann in Holland auch sonst von Vorteil sein.), ich hingegen dachte mir aus, wofür einige Kfz-Abkürzungen wirklich stehen. (WTM - Wir töten Menschen, CLP - Christliches Lumpenpack) Nach den oben erwähnten zwei Stunden erlöste uns schließlich Ludwig von der Schmach, unseren Negativ-Warterekord zu brechen und fuhr mit uns nach Leer. Ludwig kam aus Leer, hatte uns bereits vor zwei Stunden mal gesehen und nun Mitleid bekommen. Ludwig sprach mit solch einem starken ostfriesischen Dialekt, dass Anne-Marie sich völlig aus dem Gespräch ausschaltete und ich umso mehr selbigen adaptierte. Wir redeten über Leer und Berlin, probierten Gemeinsamkeiten zu finden und verwarfen diesen Versuch sofort wieder. Ludwig war sympathisch und ich hätte ihn trotz seiner 38 Jahre gerne als Großvater adoptiert. Auch weil ich der Grund war, warum er angehalten hat. „Ich bin nicht schwul, aber nur eine Frau – da hätte ich nicht angehalten. Wer weiß, was die einem dann später anhängt.“ Aus Ludwig schien das Leben zu sprechen und da diese Sympathie offensichtlich beiderseitig aufkeimte, fuhr er uns sogar bis zum Leeraner Bahnhof, an dem er die größten Chancen auf Weiterfahrt vemutete.

Außer einer Gruppe Spanier, die versehentlich nicht in den Zug zum Bremer Flughafen eingestiegen sind, und einem Taxifahrer, der das große Geschäft witterte, war weit und breit niemand zu sehen. Hin und wieder fuhren ein paar Jugendliche in ihren tiefergelegten Autos vorbei, um fünf Runden in dem Kreisverkehr zu drehen. Eine junge Frau bot sich außerdem an, uns in die Jugendherberge zu bringen – oder auch früh um 6 Uhr zur niederländischen Grenze. Letzteres nahmen wir an und tauschten Handynummern mit Eyla. Weil auch sonst keiner nach Holland wollte, beschlossen Anne-Marie und ich, die Leeraner Innenstadt zu erkunden. Unsere Müdigkeit hielt uns nicht davon ab, den erstbesten (und vermutlich einzigen) Laden zu betreten. Es war das Jameson's Pub am Mühlenplatz und man kann guten Gewissens sagen, hier brummte der Bär. Die Bandbreite an Menschen war kaum zu übertreffen. Da wäre zum einen Petra, die Dame hinter der Bar, die förmlich darauf wartete, dass endlich jemand ihre groß angekündigten Sommercocktails bestellte. Noch bevor wir einen Schluck nehmen konnten, plauderte sie schon das Rezept aus. An der Bar saß ein Mann, der mit seiner wasserstoffblonden Lockenmähne einer norwegischen Version des frühen Jon Bon Jovi glich; neben ihm Willygo, der zu späterer Stunde noch das Gespräch mit Anne-Marie suchte. „Das ist'ne tolle Locke“, lallte er und meinte ihre Frisur. „Und schöne Augen hast du auch.“ Bevor er noch weitere Körperteile lobhudeln konnte, stand allerdings schon das Taxi bereit, das Petra ihm gerufen hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass, wenn man schon an einem Donnerstagabend in irgendeiner deutschen Kleinstadt stranden musste, es doch wenigstens Leer sein musste. Um kurz vor 3 verließ uns schließlich der Partyesprit und wir schlugen mangels Alternativen in der Bankfiliale gegenüber unsere Zelte auf. Es war unbequem auf dem Fliesenfußboden und angesichts der drohenden Erniedrigung hier vorgefunden zu werden, konnten wir kaum ein Auge zu tun. Ich fragte mich, was meine Mutter nun wohl von dieser Situation finden würde und ob das nicht etwas zu viel des Abenteuers sei. Ich stellte mir vor, wie wir doch einschliefen und am nächsten Tag von der ersten Bankangestellten überrascht werden würden. Ich überlegte außerdem, wie viel ein Taxi von Leer nach Berlin wohl kosten mag. Aber alles half nichts, auch die schlimmste Nacht unserer bisherigen Reise ging vorüber und wir standen um 6 Uhr frisch wie Zahnpasta auf dem Bahnhofsvorplatz, um Eyla zu treffen.

Eyla hätte Ludwigs Tochter sein können. Sie war genauso witzig, ohne irgendwelche Pointen betonen zu müssen, der gleiche ostfriesische Singsang. Eyla war viel gereist, immer per Anhalter. „Irgendwann wollte ich eine Woche abschalten in Dänemark. Ich hab dort so viel gekifft, dass ich am nächsten Tag in Paris aufwachte und nicht wusste warum.“ Anne-Marie und ich schauten uns verwundert an ob dieser unerklärlichen Magie. Kurz vor Rhede an der Ems schubste Eyla uns in die Morgendämmerung und empfahl uns das Frühstück „bei Rudi“. Rudi empfahl uns nach dem Frühstück eine geeignete Stelle zum Trampen. Klappte anfänglich eher nicht so gut, aber schließlich nahm ein junger Niederländer uns über die Grenze mit und setzte uns in Winschoten wieder aus. Dort gaben wir unser Bestes, um schnell weiter zu kommen. Die Niederländer schienen anfangs auch tatsächlich freundlicher als die Deutschen; sie winkten, lächelten uns zu und hupten – aber keiner hielt an. Nach einer Stunde erbarmte sich ein Familienvater und fuhr uns nach Groningen. Auch er hatte uns schon auf dem Hinweg gesehen und auf dem Rückweg Mitleid bekommen.

Kosten/Strecke: 0€/217km
Was wir gelernt haben: Plattdeutsch, von Ludwig
Was wir hätten brauchen können: Freunde in Leer

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Berlin - Michendorf - Oldenburg - Schortens

3/8/2010

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Erst waren es bloß ein paar Tropfen, kurze Zeit später ein ausgewachsener Regenschauer. Anne-Marie und ich sitzen an der Autobahnauffahrt Spanische Allee im Südwesten Berlins, im Gras hinter uns liegen unsere Reisetaschen. Sie hält ein Schild mit der Aufschrift 'Bremen/Hannover' in der Hand, ich strecke unaufhörlich meinen Daumen in die Luft und suche Blickkontakt zu den Autofahrern. Wir hätten bereits begonnen zu zweifeln, ob per Anhalter fahren nicht ein Relikt vergangener Zeiten ist, wenn wir nicht schon drei Tramperpärchen vor uns hätten wegfahren sehen. All diese Leute ließen sich auf ein bestimmtes Erscheinungsbild reduzieren: überdimensionaler Rucksack, mehrfarbige Strickbekleidung und ungestümer Haarwuchs. „Wie können die Menschen so herzlos sein? Man kann uns doch nicht dafür bestrafen, dass wir uns geschmackvoll kleiden.“, sagte sie weinerlich. Seit drei Stunden standen wir bereits an Ort und Stelle, haben wildfremde Menschen angesprochen, Schilder gemalt und reiselustig drein geschaut. Die meisten Fahrer schauten mitleidig zurück und fuhren weiter. „Es liegt an deiner Hose.“, schlussfolgerte endlich Anne-Marie, „Vintage in Brüssel kaufen, aber umsonst dort hin fahren wollen. Das passt nicht zusammen. Wir sehen nicht arm genug aus.“ Ich setzte bereits an zu einem erhitzten Vortrag über belgische Designer, als uns der blaue Twingo aus Sachsen-Anhalt ansprach.

Er fahre zwar nicht in unsere Richtung, könne uns aber zum nächsten Rasthof mitnehmen. Chancenoptimierung, sagte er noch, und dass er Wirtschaft studiert habe. Gerade fertig geworden, jetzt hatte er ein Vorstellungsgespräch in Berlin. „Gibt Schlimmeres“, tönten Anne-Marie und ich von der Rückbank und waren glücklich, unserem Ziel 25 km näher zu kommen. Von da an ging plötzlich alles ganz schnell. In Michendorf hatten wir innerhalb von fünf Minuten ein kroatisches Ehepaar aus Emden beschwatzt, uns mit nach Oldenburg zu nehmen. Anfangs gaben wir uns noch Mühe, ihnen zuzuhören (sie hatten ihre Tochter besucht, die gerade nach Berlin gezogen war), doch bereits nach einer Viertelstunde zwang uns der Schlafmangel der letzten Nacht in die Rückbankpolster. Erst kurz vor Oldenburg wurden wir wieder wach und erwarteten sehnsüchtig das Ende unserer ersten Etappe.

Irgendwo in der oldenburgischen Kleinstadtperipherie wurden wir lieblos ausgesetzt und stiegen in einen Bus Richtung Innenstadt. Wir trafen uns mit zwei Freundinnen von früher und traten nach zwei Stunden bereits die Weiterreise an. Diesmal wollten wir im Zug trampen und wurden am Bahnsteig 5 auch schnell fündig. Eine Mutter, die mit ihrer Tochter wartete, wollte uns auf ihrem Niedersachsenticket mitfahren lassen, allerdings war die Frau geschäftstüchtiger, als wir zunächst annahmen: mit zehn Euro sollten wir uns beteiligen. Wir handelten sie auf acht herunter und stiegen in den Zug Richtung Heimat. Vier Stationen und dreißig Minuten friesische Einöde später holte uns schließlich meine Mutter vom Schortenser Bahnhof ab.

Kosten/Strecke: 5,60€/478km
Was wir gelernt haben: Trampen hat viel mit Mitleid zu tun
Was wir hätten brauchen können: einen Poncho, möglichst bunt
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YULIAN I∙DE

Journalist, Kolumnist & Korrespondent
Niederlandist, Linguist & Literaturwissenschaftler
Presse-, Marketing- & Veranstaltungsreferent
Netzwerke in den Kulturbranchen in Deutschland und den Niederlanden & Flandern
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