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​d∙ie ge[dank]en si∙nd fr∙ei 

Blue light Yokohama

6/9/2014

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An meinem ersten Abend in Tokyo, einem Sonnabend, war ich ziemlich lost. Ich hatte meinen schweren Rucksack am Bahnhof Shinjuku in eine Spind gepackt und bin geradewegs ins Schwulenviertel Nichōme (= Shinjuku 2-chōme) gepilgert, denn bekanntlich trifft man in Schwulenvierteln die offensten und nettesten Menschen. Vor dem Advocates Café, das mir als ausländerfreundliche Vorglühkneipe empfohlen wurde, traf ich dann auch direkt eine Handvoll nette Leute, mit denen ich die nächsten zwei Stunden verbrachte. Ich unterhielt mich vor allem mit Allan, den ich sympathisch fand, weil er ganz offen seinen Job hasste und mir in Japan bisher wenig offener Unmut über irgendwas begegnet war und mit Naoki, den alle Nick nannten, und mit dem ich mich gleich in drei Sprachen (Englisch, Deutsch und Niederländisch) fließend unterhalten konnte, was mir so in Japan bisher auch noch nicht passiert ist.

Allan jedenfalls lud mich nach Yokohama ein, wo er wohnt und arbeitet und weil ich Yokohama sowieso besuchen wollte, nahm ich dankend an und verabredete mich für den folgenden Samstag mit ihm. Eine Woche später war ich in Tokyo bereits einigermaßen angekommen und hatte den Freitag ebenfalls feiernd in Nichōme verbracht, so dass ich schwer verkatert war, als ich in den Zug nach Yokohama stieg. Von Yokohama konnte ich mir im Vorhinein nicht so richtig eine Vorstellung machen. Einerseits liegt die Stadt so nah an Tokyo, dass sie gemäß dem Potsdamschen Gesetz zwangsläufig im Schatten der Hauptstadt ein Dasein in gähnender Tristesse fristen müsste. Andererseits ist Yokohama die zweitgrößte Stadt Japans und mit 3,7 Millionen Einwohnern so groß wie Berlin. Bei der Größe ist es eigentlich ziemlich schwer, scheiße zu sein.

Von Shinjuku aus brauchte ich jedenfalls eine gute halbe Stunde zum Bahnhof Sakuragichō, wo ich eine Weile nach Allan suchen musste, denn ich hatte mal wieder weder Strom noch W-LAN. In Yokohama fiel mir sofort auf, wie gelassen und relaxed alles zugeht im Vergleich zu Tokyo. Die Straßen sind breit und überall gibt es Wasser- und Grünflächen. Zwischendrin stehen einige Gebäude, die ungefähr so aussehen, wie man sich in den Achtzigern die Zukunft vorgestellt haben muss. (Diesen Retrofuturismus, vielleicht sogar eher noch etwas älter, gibt es übrigens ganz ähnlich auch in Osaka und Kobe. Finde ich nicht schlecht eigentlich.) Als erstes liefen wir gemeinsam zum Hafen, der neben mir unglaublich gut gefiel. Während die Hafenkulisse in Kobe ziemlich bilderbuchartig wirkte, schien mir der Hafen in Yokohama irgendwie echter, was vielleicht daran liegen kann, dass Yokohama (ab Ende 19. Jahrhundert) neben Nagasaki (ab 17. Jahrhundert) im Süden Japans Tor zur westlichen Welt war und daher vielleicht etwas mehr meinem europäischen Klischee eines Hafens entsprach. Wir liefen an der Hafenpromenade entlang, wo junge japanische Familien mit ihren Kindern entlang flanierten (und die Väter wirklich auffallend süß an ihrem freien Tag mit ihren Kindern spielten), kauften uns in einem Combini das erste Bier des Tages und schauten uns die alten Warenhäuser Akarenga Sōkō an, die mich entfernt an die Speicherstadt in Hamburg erinnerten. Der Vergleich mit Hamburg ist vielleicht eh viel passender als der mit Potsdam. Yokohama muss man sich vorstellen wie Hamburg, wenn es direkt neben Berlin liegen würde.

Allan, der als Sohn japanisch-chinesischer Eltern in der Mandschurei im Norden Chinas geboren, aber in Nagoya in Japan aufgewachsen ist, führte mich dann zum Chinatown von Yokohama, den ich ebenfalls irre cool fand, vor allem auch, weil Allan eben mit allen Leuten auf Mandarin sprechen konnte und ich mich zwischen allen Touristen deshalb nicht mehr ganz so touristisch fühlte. Wir schauten uns den taoistischen Tempel Kantei-byō an und beobachteten in einer benachbarten chinesischen Schule Schüler dabei, wie sie eine Aufführung für das chinesische Mondfest vorbereiteten, das am darauffolgenden Montag stattfinden würde.

Später am Abend aß ich mit Allan noch Mondkuchen, ein mit süßer Bohnenpaste gefüllter Kuchen, den man traditionell in China zum Mondfest isst und den er von einem Arbeitskollegen aus Taiwan geschickt bekommen hatte.

Überhaupt fand ich China, bevor ich nach Japan gereist bin, ein eher unsympathisches Land – aus ähnlichen Gründen, aus denen ich auch die USA eher unsympathisch finde: in ihrer jeweiligen Region sind sie so groß und übermächtig, dass ihnen alles drumherum egal ist. Seit ich aber in Japan einige Chinesen (und Taiwanesen) kennengelernt habe, häufiger mal wirklich chinesisch essen war und mir der immense Einfluss der chinesischen Kultur auf die umliegenden Nationen klargeworden ist, finde ich China doch auch zunehmend spannender. Zumal viele Chinesen, die mir hier in Japan begegnen, ausgezeichnet Englisch sprechen und zwischen all den im Durchschnitt recht verschlossenen Japanern, ziemlich weltoffen und zugänglich wirken. Natürlich sind die Chinesen in Japan aber wiederum auch nicht repräsentativ für ihre anderthalb Milliarden Landsleute.

Yokohama gefiel mir jedenfalls ausgesprochen gut, nicht nur, weil es ganz eindeutig komplett anders ist als Tokyo. Yokohama wirkte auf mich viel weltoffener, entspannter und kosmopoliter als alle Städte in Japan, die ich bisher gesehen habe, und zwar nicht nur des Hafens wegen. Alle Leute, die mir in Yokohama begegneten, sprachen beispielsweise überdurchschnittlich gut Englisch und benutzten es auch ohne, dass ich sie erst mit meinem unterirdischen Japanisch förmlich dazu nötigen musste. Auf all den offenen öffentlichen Plätzen gab es Tanzeinlagen, Jongleure, Clowns und alle möglichen Show-Einlagen, die ich – verkatert wie ich war – unheimlich geil fand.

Gegen frühen Abend machten Allan und ich uns auf den Weg nach Shin-Yokohama, wo er wohnte, verbrachten auf dem Weg dahin noch eine Stunde in einem Elektrogeschäft, in dem Allan heruntergesetzte Lautsprecher kaufen wollte, die man ihm aber nicht verkaufte, weil die Bedienungsanleitung fehlte. Irgendwie auch typisch für die japanische Servicekultur – wenn eine Ware nicht perfekt ist, schmeißt man sie lieber weg, als sie mit Mangel zu verkaufen, auch wenn es sich nur eine fehlende Bedienungsanleitung handelt. Niemand will sich hier nachsagen lassen, schlechte Ware zu verkaufen.

Wir kauften uns dann schließlich im Supermarkt Bentō-Boxen (fertige kleine Gerichte, die kurz vorher frisch zubereitet wurden und meistens als Pausenbrot mit zur Schule oder zur Arbeit mitgenommen werden) und aßen sie bei Allan zuhause. Abgesehen von all dem guten Essen, das ich in japanischen Restaurants gegessen habe, werde ich gerade den ganzen billigen, aber hochwertigen Kram aus den Supermärkten und Combinis in Deutschland total vermissen. Allan lud noch Cole zu sich ein, einen 22-jährigen US-Amerikaner, der gerade einen einjährigen Japanischkurs in Yokohama begonnen hat und bereits unglaublich gut Japanisch sprach und gemeinsam gingen wir in die Schwulenbar im neunten Stock des Nachbarhauses, die von Kenji, einem weiteren wunderschönen Brasilojapaner, und seiner ebenfalls wunderschönen Schwester betrieben wurde. Ich habe dort einen Longdrink mit dem Namen Kraftwerk getrunken, der hauptsächlich aus allen mehr oder weniger deutschen Zutaten gemixt wurde, den die Bar so hergab (Jägermeister, Carlsberg-Bier – ist zwar dänisch, aber das weiß hier keiner, einem süßen Obstler und Zitronensaft), dann aber bizarrerweise am Ende doch ganz okay schmeckte. Während wir also gerade in dieser Bar saßen, in der im Übrigen auch wieder mal bloß nur 10 Leute Platz gehabt hätten, fing es draußen an, wie aus Eimern zu schiffen. Ich wollte pünktlich zum Samstagnachtleben wieder zurück in Tokyo sein und machte mich deshalb in einer kurzen Schauerpause auf den Weg zum Bahnhof. Die Schauerpause währte leider keine 5 Minuten, sodass ich bereits an der nächsten Straßenecke komplett nass und auch noch völlig orientierungslos war. Nur einem Japaner, etwa in meinem Alter, habe ich es zu verdanken, dass ich noch halbwegs trocken (er schenkte mir seinen Regenschirm und ich hatte angesichts des wirklich beschissenen Wetters wenig Skrupel ihn anzunehmen) und rechtzeitig meinen letzten Zug erwischte. Für den großzügigen Regenschirmschenker kriegt Yokohama aber mindestens nochmal 2 Sternchen auf der Sympahtieskala gutgeschrieben.

Was ich gelernt habe: „Du hast ein kleines Gesicht!“ ist in Japan ein Kompliment. „Du hast echt große Augen!“ auch. Während „Du hast ein Mondgesicht!“ eine wirklich schlimme Beleidigung ist, ist „Du bist fett geworden!“ nicht beleidgend.
Was ich hätte brauchen können: Einen Regenschirm. Den ich dann auch mal irgendwem bei strömenden Regen schenken würde.
Wen ich grüße: Meine Lieblingshamburger Klaas, Christina und Sandra – weil euch Yokohama garantiert auch gefallen würde. Und vor allem Franny, die irgendwo hier in der Nähe vor Anker liegen muss.
Song des Tages: Blue light Yokohama von Ayumi Ishida

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YULIAN I∙DE

Journalist, Kolumnist & Korrespondent
Niederlandist, Linguist & Literaturwissenschaftler
Presse-, Marketing- & Veranstaltungsreferent
Netzwerke in den Kulturbranchen in Deutschland und den Niederlanden & Flandern
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