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In Bruges | Bruges-la-morte

28/8/2008

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Über die Leinwand flackern Bilder von Brügge. Die friedliche Stadtsilhouette mit den drei majestätischen Türmen: die Sint-Salvador-Kathedrale, die Liebfrauenkirche und der Belfried. Im Vordergrund die Kanäle, die hier Reien heißen. Die ersten zehn Minuten passiert wenig, fast störend wirkt der Satz „Ich find’s hier schön“, den der Profikiller Ken in die neblige Stille Brügges flüstert, während er den Ausblick vom Belfried genießt. Das vorweihnachtliche Brügge ist mit seinem poetischen Flair der wohl widersprüchlichste Schauplatz für einen Actionfilm und gerade daraus zieht die Handlung von In Bruges (dt.: Brügge sehen… und sterben?) ihre Spannung. Die beiden Auftragskiller Ken und Ray tauchen in der flämischen Hansestadt unter, um dort auf die nächste Mission ihres Auftraggebers Harry zu warten. „Es ist wie im Märchen überall. Mit all den Kirchen und der Gotik. Überall Kanäle, Brücken und Kopfsteinpflaster.“ Selbst dem abgebrühten Harry verleiht der Gedanke an Brügge eine fast kindliche Sanftheit in der Stimme.

„Wie traurig war die Stadt an diesen Abenden. Er liebte sie so. Gerade wegen seiner Schwermut hatte Hugo Brügge zum Wohnort gewählt.“
So beschrieb der belgische Autor Georges Rodenbach gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Roman Bruges-la-morte (dt.:Das tote Brügge) die schlafende Schönheit im Westen Flanderns. Und tatsächlich war ihr Schlaf beinahe komatös: Nachdem die Stadt im 15. Jahrhundert von burgundischen Herzögen regiert wurde, die Brügge kulturell, architektonisch und wirtschaftlich zur reichsten Stadt Nordeuropas machten, begann zu Anfang des 16. Jahrhunderts der wirtschaftliche Abstieg der Hansestadt. Die Versandung der Zwin, ein Meeresarm der Nordsee, der bei einer Sturmflut im Jahre 1134 aufgerissen war, schnitt der Stadt den direkten Zugang zum Meer ab und kostete sie somit die führende Position als Haupthandelshafen.

„Das tote Brügge war selbst bestattet im Grabe seiner steinernen Grachten, und erstarrt waren die Adern seiner Kanäle, verebbt der große Pulsschlag des Meeres.“, heißt es in dem Roman Rodenbachs. Die Stadt wird zum Symbol der Trauer Hugo Vianes um seine verstorbene Ehefrau: die neblige, graue Szenerie und die dunklen, tristen Häuserfassaden, aber auch die sittsame Frömmigkeit gleichen seinem unendlichen Trübsinn. Erst als Hugo die Tänzerin Jane kennenlernt, die seiner Toten aufs Haar gleicht, scheint auch Brügge sich von dem dunklen Schleier des Totenschlafes zu befreien. „Er ging getrost durch ihre Stille, als wäre auch sie aus ihrem Grabe auferstanden und stände da wie eine neue Stadt, der alten gleich.“ Auch in dem Film von Martin McDonagh steht die hübsche Flamin Chloë in perfekter Symbiose zu der klassischen Eleganz ihrer Heimatstadt. Brügge selbst wirkt wie eine rätselhafte flämische Schöne, wie sie der Maler Fernand Khnopff in seinen Brügger Porträts in ihrer ganzen traurigen Anmut darstellt. Seine durch adelige Grautöne gekennzeichneten Ansichten sind von dem Roman Rodenbachs inspiriert.

Brügge konnte sich seine Schönheit bewahren, denn die im 19. Jahrhundert aufkommende Industrialisierung ging vollständig an der einstigen Metropole vorbei. Was damals den weiteren Abstieg der Stadt andeutete, ist heutzutage das große Glück. Da wegen des jahrhundertelangen Stillstandes kein Geld vorhanden war, um Bauvorhaben zu finanzieren, konnte sich Brügge den mittelalterlichen Stadtkern bewahren, der heute Teil des Unesco-Weltkulturerbes ist. Die labyrinthartigen Gassen sind heute ein Anziehungspunkt für Touristen aus ganz Europa und schon Rodenbach schrieb, Brügge sei die Stadt, „die in den tausend Bändern ihrer Kanäle wie verschnürt dalag.“

Nicht nur, dass der Roman Brügge Anfang des 20. Jahrhunderts ein Image als morbide Kulturstadt verschaffte, auch erhielt die Stadt 1907 durch den Anschluss an den Seehafen Zeebrügge neue wirtschaftliche Perspektiven. Dornröschen erwachte, hatte jedoch scheinbar noch keine Zeit für Renovierungsarbeiten: „Als wir durch die Straßen gelaufen sind, da war dieser eisige Nebel über allem. Es war wie im Märchen.“, berichtet Ken mit der gemütlichen Ruhe in der Stimme, die einen überkommt, sobald man die Stadtgrenzen überschreitet. Szenenwechsel. Ein Schwan auf dem Wasser der Grachten, pardon, Reien. Es ist früh abends, die Hintergrundszenerie ist in vorweihnachtlicher Romantik beleuchtet. Hugo schlendert in seliger Eintracht durch die Straßen, während sich die Killer in derselben Szenerie eine Verfolgungsjagd liefern. Und doch scheint alles so nebensächlich, denn im Buch wie im Film ist Brügge die heimliche Hauptdarstellerin. Die friedliche Stille macht Brügge zur Zuhörerin für traurige Stunden, durch das geschäftige Treiben auf dem vorweihnachtlichen Grote Markt wird sie zur Kupplerin großer Liebesbeziehungen, der Beginenhof und die sakralen Gebäude machen die Stadt zu einem nebligen Nirwana auf Erden. Nicht schaurig, nicht makaber, nicht grausam, sondern fast spirituell formuliert es Ken im Film: „Ich würde gern noch mal Brügge sehen, bevor ich sterbe.“

Rodenbach, Georges: Bruges-la-Morte. Paris: Marpon & Flammarion, 1892.
McDonagh, Martin: In Bruges. Vereinigtes Königreich: 2008.
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YULIAN I∙DE

Journalist, Kolumnist & Korrespondent
Niederlandist, Linguist & Literaturwissenschaftler
Presse-, Marketing- & Veranstaltungsreferent
Netzwerke in den Kulturbranchen in Deutschland und den Niederlanden & Flandern
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